In letzter Zeit denke ich oft darüber nach, wie mein Leben als Mutter verlaufen wäre, wenn es vor gut zwölf Jahren eine normale Kassenleistung gewesen wäre, sein Ungeborenes mittels eines einfachen Bluttestes auf bestimmte Behinderungen untersuchen zu lassen. Ich wäre wohl davon ausgegangen, dass alles, was die Krankenversicherung übernimmt, gut und wichtig für mein Baby sei.
Und dann hätte ich die Nachricht bekommen, dass mein Kind das Downsyndrom hat, dass es behindert sein wird. Ich hätte unter Schock gestanden, hätte mich gefragt, ob ich dieses Kind lieben könnte, und hätte es mir nicht als niedliches Baby vorstellen können. Man hätte uns vermutlich den baldmöglichsten Termin für einen Abbruch genannt. Mein Mann und ich hätten viele Tränen geweint und vielleicht das Unvorstellbare getan: Das Kind, das wir uns gewünscht hatten, aus lauter Angst und Unsicherheit abzutreiben.
Unser Baby aussortieren?
Denn über eines muss man sich im Klaren sein: Nicht der Bluttest verhindert die Geburt eines behinderten Kindes, sondern nur die Entscheidung der werdenden Eltern für einen Schwangerschaftsabbruch.
Ein Glück, dass uns dies nicht so geschehen ist. Vielmehr sagte mein Frauenarzt damals, ich müsse die Messung der Nackenfaltentransparenz selber zahlen, denn es sei erst für Frauen ab 35 eine Kassenleistung. Auf meine Nachfrage, wofür die Messung gut sei, erfuhr ich, dass man damit die Wahrscheinlichkeit für ein Kind mit Trisomie 21 berechnen könnte. Als ich weiter fragte, wofür das wiederum gut sei, schwieg der Arzt. Ich musste mir selber zusammenreimen, welcher Automatismus für ihn dahinterstand.
Mein Mann und ich konnten uns ein Leben mit einem behinderten Kind nicht vorstellen. Doch noch weniger konnten wir uns vorstellen, dieses Baby – auf das wir uns so freuten – auszusortieren, weil es nicht der allgemeinen genetischen Norm entsprach. Wir testeten nichts und entschieden uns bedingungslos für unser Kind.
So wurde unser Sohn Willi mit dem Downsyndrom geboren.
Tausende Fragen ohne Antworten
Was, wenn ich ihn abgetrieben hätte? Wohin hätte ich mit meiner Trauer gehen können? Hätte ich die Nähe meines Mannes ertragen, der diesen Schritt zugelassen hätte? In wie vielen Nächten wäre mir mein Kind im Traum begegnet? Hätten wir jemals ein zweites Kind bekommen? Und wenn ja, was hätten wir unserer Tochter eines Tages antworten sollen auf die Frage, ob wir sie auch getötet hätten, wenn sie eine Behinderung gehabt hätte?
Oder hätte ich es geschafft, die Abtreibung zu verdrängen, und mir gesagt, mein Kind hätte kein lebenswertes Leben gehabt? Und was, wenn ich dann einem kleinem Willi auf dem Spielplatz begegnet wäre? Ich hätte miterleben müssen, dass er vielleicht das einzige Kind ist, was noch nicht selber schaukeln kann, aber das, was sich von allen am allermeisten freut.
Ich hätte ihn laut lachen hören, immer und immer wieder. Ein Lachen, das ansteckt, ein Glück, das so sehr strahlt, dass selbst die Menschen rundherum nicht anders können, als sich gut zu fühlen. Außer mir natürlich. Ich hätte mein Kind genommen und wäre nach Hause gerannt – noch bevor der kleine Willi wegen einer kurzen Schaukelpause einen gigantischen Trotzanfall bekommen hätte.
Unser Leben ist ganz normal, aber extremer
Hätte ich meinen Arzt dafür verklagt, dass er mir nicht gesagt hatte, wie das Leben ohne mein behindertes Kind sein würde?
Wie ist mein Leben heute? Anders, als ich es mir vorgestellt hatte, aber es fühlt sich richtig an und gehört zu mir, so wie meine Kinder – die übrigens beide die süßesten Babys der Welt waren! Letztendlich ist unser Leben ganz normal, nur irgendwie extremer und dadurch wahrscheinlich anstrengender.
Es war mein sehnlichster Wunsch, mein zweites Kind möge normal und vor allem gesund auf die Welt kommen. Aber ich wusste, dass es dafür keine Garantie gibt, und auch Olivia haben wir so genommen, wie sie kam.
Wenn ich bedenke, wie oft ich gefragt wurde, ob wir „es“ denn diesmal getestet hätten, möchte ich nicht wissen, wie hoch der Druck heute – zehn Jahre später – auf schwangere Frauen ist. Müssen sie bald für ihr Anrecht auf Nichtwissen kämpfen?
Ist Information noch Recht oder schon Pflicht?
Ich habe nun schon so oft als Argument für den Bluttest gehört, dass Eltern ein Recht auf Information haben, dass er mir schon bald wie eine Pflicht erscheint. Was, wenn wir mit dieser Art von Informationen gar nicht umgehen können? In Indien ist es verboten, das Geschlecht des Kindes vorgeburtlich zu bestimmen, weil massenhaft Mädchen abgetrieben wurden. Die Erfahrungen in Dänemark – wo schon seit einigen Jahren Ungeborene als Kassenleistung auf Trisomie 21 untersucht werden – zeigen, dass dort 98 Prozent der diagnostizierten Kinder nicht geboren werden.
Man hält das für einen Erfolg.
Wie passt das alles zur Unterzeichnung der Uno-Behindertenrechtskonvention und den ewig schönen Worten über Inklusion und Diversität? Natürlich bin ich nicht dafür, den Test zu verbieten. Aber ihn allen Frauen wie selbstverständlich in den Schoß zu legen, wäre eine bewusste Entscheidung gegen Menschen mit Downsyndrom in unserer Gesellschaft. Es würde bedeuten, dass sie unerwünschte und zu vermeidende Menschen sind.
Eine Mutter erzählt im Video: „Man legte uns nahe, das Kind nicht zu bekommen“
Dabei können wir von ihnen viel lernen. Man muss nur mal zehn „Normalos“ fragen, ob sie sich schön oder glücklich fühlen und dann zehn Menschen mit Downsyndrom! Das Absurde ist, dass diejenigen, die den Bluttest entwickelt haben, die ihn anbieten und wohl auch diejenigen, die ihn in Anspruch nehmen, wahrscheinlich niemals zehn Menschen mit Downsyndrom kennengelernt haben.
Liebe hat nichts mit der Chromosomenzahl zu tun
Übrigens sind nur vier Prozent aller Behinderungen genetisch bedingt, alle anderen sind unter der Geburt oder später im Leben erworben. Die Entscheidung, standardmäßig auf Kosten der Kassen kleine Willis zu selektieren, wird für alle Menschen mit Behinderung und für unsere gesamte Gesellschaft ein Signal sein. Das macht mich traurig.
Zum Glück habe ich meine Kinder. Wenn Willi aus der Schule kommt, wird er seine weiche Wange an die meine schmiegen und mich über jeden Schmerz der Welt trösten. Oder aber er wird in sein Zimmer marschieren, um laut Musik zu hören, zu tanzen und zu murmeln. Und Olivia wird freudig bereit sein, mit mir zu basteln und mich über die beginnende Pubertät ihres großen Bruders trösten – außer natürlich, sie muss sich mit elenden Hausaufgaben herumplagen.
So ist das Leben, man kann sich nicht alles aussuchen – nicht die Hausaufgaben und Kinder schon gar nicht. Und das ist gut so. Denn Liebe hat nichts mit der Chromosomenzahl oder dem Schulabschluss zu tun.
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